Weil die Geschichte des menschlichen Daseins schon nach relativ kurzen Zeitraümen in den dunklen Tiefen des Unbewussten versinkt und die Zukunft beinahe endlose Möglichkeiten in sich birgt, die wir ebenso wenig überblicken wie die Vergangenheit, steht uns streng genommen, darauf wurde schon häufig verwiesen, kein endgültiges moralisches Urteil über einen Mitmenschen zu; wir wissen einfach viel zu wenig von ihm, selbst wenn wir über fast alle Details seines jetzigen Lebens Kenntnis hätten, bliebe uns doch verborgen, was er ev.  in früheren Existenzen durchzustehen hatte, geschweige denn, wie er sich dereinst entwickeln wird, ob er Reue zeigen mag oder gewillt ist, viel Gutes zu bewirken.

Solch ein Urteil bleibt einer absoluten Perspektive vorbehalten, der das Ganze gegenwärtig ist und die nicht aufgrund  einer punktuellen Situation entscheidet; das bedeutet natürlich nicht, dass man sich alles gefallen lassen sollte, es geht hier nur um die quasi endgültige sittliche Beurteilung eines Menschen überhaupt, wobei die Bewertung der Handlungen auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielt.

Können wir eigentlich in diesem Zusammenhang sicher sein, etwa eine besonders kritisierte Tat nicht selbst dereinst, mag sein vor Urzeiten, begangen zu haben, dem Bewusstsein verborgen, dem Unbewussten aber vielleicht in irgendeiner Form präsent, sodass die Härte, die wir anderen entgegenbrigen, auf uns selbst zurückfallen könnte? Was wir anderen nicht vergeben, werden wir wahrscheinlich auch uns selbst nicht verzeihen, da wir uns in der Regel als unsere schärfsten Kritiker erweisen. Deshalb erscheint es ratsam, Barmherzigkeit bei anderen zu üben, um dann eher in der Lage zu sein, sie bei sich selbst walten zu lassen, und um das Vertrauen  darauf zu stärken, dass auch die absolute Perspektive mit barmherzigen Augen  auf uns blickt.